Eines Tages schickte die Mutter ihre Tochter Coachkäppchen zur Großmutter. Sie sollte nach ihr sehen, weil sie schwach und krank war, und ihr Essen und Trinken bringen.
Dies geschah, wie seit vielen Generationen der weiblichen Ahnenreihe, nicht freiwillig oder gar aus Fürsorge. Alle Mütter hatten die Verantwortung für ihr Leben und Wohlergehen stets an ihre Töchter abgegeben, sodass diese eine schwere Last (in diesem Fall den mit Essen und Trinken vollgepackten Korb) für sie tragen mussten.
Auch Drogenmissbrauch, um all diese verwirrenden, schmerzhaften Gefühle nicht fühlen zu müssen, war an der Tagesordnung. Deshalb waren eine gute Flasche Wein und ein süßer Kuchen zum Wegdrücken des Schmerzes für die Großmutter, die sich ja eigentlich nur nach Gesellschaft sehnte, mit dabei.
Da die weibliche Ahnenreihe noch dazu Angst vor Männlichkeit hatte und es gewöhnt war, ihre Wutkraft zu unterdrücken, warnte die Mutter Coachkäppchen vor dem Gehen: Hüte Dich vor dem großen, bösen Wolf, der im Wald sein Unwesen treibt.
Dass dieser Wolf ihr eigener, verdrängter Schatten war, hatte die Mutter leider nicht erkannt. Auch solle Coachkäppchen keinesfalls vom Weg abweichen.
Coachkäppchen fragte sich, warum sie das alles machen sollte, wenn es doch so gefährlich war – und warum gerade sie? Viel lieber hätte sie einfach nur zu Hause mit ihren Freundinnen gespielt. Und warum nicht vom Weg abweichen – vielleicht gab es einen kürzeren, leichteren? War sie womöglich der Chainbreaker, nach dem sich all die weiblichen Ahnen schon immer gesehnt hatten?
Im Wald begegnete Coachkäppchen dem Wolf. Aber anders als alle anderen weiblichen Vorfahren hatte sie trotz der Warnung der Mutter keine Angst vor ihm. Er fragte, wohin sie unterwegs sei. Sie sagte ihm, dass sie zur Großmutter wolle, ihr Wein und Kuchen bringen. Der Wolf wies sie sogar noch auf die Schönheit der Blumen abseits des Weges hin. Ja, die wollte sie pflücken und die Sonnenstrahlen genießen.
Der Wolf ging indes zur Großmutter nach Hause, verstellte sich als Coachkäppchen und wurde hineingelassen. Noch bevor die Großmutter wusste, wie ihr geschah, hatte der Wolf sie verschlungen und legte sich in ihren Kleidern in ihr Bett.
Der Wolf kam zwar als unabhängiger, einsamer Autonomietyp daher, aber das war nur eine frühkindliche Überlebensstrategie. Insgeheim hatte er sich immer nach ganz engem Kontakt, ja nach Verschmelzung mit der Großmutter gesehnt. Diese hatte er jetzt erreicht – näher als im eigenen Bauch kann einem die Großmutter ja nicht sein. Er seufzte wohlig und bemerkte gleichzeitig tiefe Schuldgefühle, weil er seine Aggressionen eingesetzt hatte, um zu bekommen, was er so dringend brauchte.
Coachkäppchen kam derweil bei der „Großmutter“ an. Diese erschien ihr heute wirklich merkwürdig. Daher fragte sie: „Großmutter, warum hast du so große Ohren?“
Der Wolf antwortete: „Damit ich besser jede einzelne Nuance hören kann, um eventuellen Gefahren auszuweichen.“
„Großmutter, warum hast du so große Augen?“
„Damit ich dich besser im Auge behalten kann. Ich habe ja einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil erlernt, außerdem ist das eine eingefrorene frühkindliche Schreck-Angst-Reaktion.“
„Großmutter, warum hast du so große Hände?“
„Damit ich Dich besser packen kann. Andere Liebe als besitzergreifende habe ich nie kennengelernt.“
„Aber Großmutter, warum hast du so ein riesengroßes Maul?“
„Damit ich dich mir besser einverleiben kann!“
Und schwupps, war der Wolf auch mit Coachkäppchen verschmolzen.
Im Bauch des Wolfes angelangt, traf sie auf die panische Großmutter, die prophezeite: „Wir werden alle sterben!“ Coachkäppchen wusste jedoch, dass es sich dabei um ein altes Kriegstrauma handelte, und bewahrte erst mal die Ruhe. Derweil empfand sie tiefes Mitgefühl mit dem Wolf, der sich offensichtlich so einsam gefühlt hatte, dass er sich nicht mehr anders zu helfen wusste.
Was wäre ein gutes Märchen jedoch ohne echtes Dramadreieck? Genau, langweilig. Da wir schon den Täter (Wolf) und das Opfer (Großmutter) haben, fehlt noch der Retter.
Der kam auch sogleich in Form des Jägers vorbei, angelockt vom Schnarchen des selig schlafenden, komplett verschmolzenen Wolfes.
Als guter Retter fiel ihm auch gleich auf, dass da was nicht stimmte, und statt den Wolf zu erschießen, wollte er ihm den Bauch aufschneiden, um die Großmutter und Coachkäppchen zu retten.
Coachkäppchen hatte währenddessen die Szenerie mit all ihrer Liebe beobachtet.
Plötzlich traute sich der Wolf, zuzugeben, dass er sich eigentlich sehr einsam fühlte und es ihm leidtat, dass er die anderen deshalb gefressen hatte.
Die Großmutter im Bauch spürte, dass ja auch sie einsam war, und entwickelte Mitgefühl mit dem Wolf. Coachkäppchen trat ihr kräftig in den Allerwertesten, und der Wolf spuckte durch den Ruck und weil er es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, beide wieder aus.
Der Jäger war nun als Retter irgendwie arbeitslos geworden und sah sich mit seinen eigenen Gefühlen der Nutzlosigkeit und Einsamkeit konfrontiert.
Das rührte den Wolf und die Großmutter zu Tränen, sie umarmten sich alle und begannen, gemeinsam den Kuchen zu essen und den Wein zu trinken (somit war der gesundheitliche Negativeffekt zu vernachlässigen, und außerdem ist soziale Interaktion weitaus wichtiger für die Gesundheit als Ernährung). Sie feierten das Leben, sangen und hatten Spaß. Das wollten sie jetzt jede Woche so wiederholen.
Coachkäppchen hingegen ging freudig hüpfend nach Hause mit einer tiefen Zufriedenheit im Bauch. Wie gut, dass sie nicht auf die Angst der Mutter gehört und stattdessen vom Weg abgekommen war, das Leben genossen hatte und dem Wolf mit Liebe begegnet war. Transgenerationales Trauma durchbrochen: Check!
Und wenn sie nicht gestorben sind … Halt: Da alle irgendwann sterben, entschieden sie sich, sich im nächsten Leben wiederzutreffen, mit anders verteilten Rollen.
Marja, Juni 2022